Sepia ist ein klassisches Frauenmittel. Ihr Grundbild ist die pflichtbewusste, perfektionistische Hausfrau, die in dieser dienenden Rolle einerseits aufgeht, andererseits sich von ihr überfordert fühlt. Sepia hat einen hohen Anspruch an Pflichterfüllung, wobei die ihr zugeschriebene Rolle nicht nur sehr viel Routine-Tätigkeiten beinhaltet, sondern auch wenig geistige Auslastung in sich birgt. Zusätzlich ist es ein Grundproblem von Sepia, wenig Anerkennung für die eigene, sehr aufopfernde Tätigkeit zu erhalten.
Im Grunde ist Sepia freiheitsliebend und kann offen und zugänglich für verschiedene Menschen und Beziehungen sein. Sie ist von der Grundanlage eigentlich nicht der Mensch, der gehorsam und unterwürfig ist.
Gegen ihren anerzogenen Perfektionismus und ihre dienende Seite vermag sie nicht anzugehen, versteht sie doch Liebe ein Stück weit als Pflicht.
„Die Liebe wird für sie zur Pflicht und ihr Pflichtbewusstsein lässt sie weitermachen, auch wenn sie am Ende ihrer Kräfte ist … (Sepia, R.M.) liebt ihren Mann und ihre Kinder von ganzem Herzen, ist aber zu erschöpft, um irgendetwas anderes als die Notwendigkeit zu verspüren, den Tag durchzustehen und bis morgen zu überleben.
Sie hat für die Liebe schlicht keine Kraft mehr übrig. Jede liebevolle Zuwendung, sei es in der Ehe, zu den Kindern, zu Vater und Mutter, sogar in engen Freundschaften, behindert sie in ihrem Bedürfnis nach einer gewissen Privatsphäre und Unabhängigkeit”.
„Wenn Sepia ihr wahres Wesen erst einmal lange genug verleugnet hat, beginnt sie, ihren Mut zu verlieren. Wenn das passiert, stirbt ihr Lebenshunger allmählich ab. Sie handelt dann mehr und mehr wie ein Roboter und geht ihren gewohnten Aktivitäten ohne Begeisterung und ohne jede innere Motivation nach.
Weil sie den Kontakt zu ihrer geistigen Lebenskraft verloren hat, fühlt sie sich körperlich und geistig träge (Kent: „Stumpfsinn, Trägheit”) und ihre Emotionen sind ebenfalls abgestumpft, so dass sie allem gegenüber gleichgültig wird”.
Sepias Zustand gerät zur emotionalen Stase, dies wird zum Grundthema ihres seelischen Zustandes. Ihre Gefühle stagnieren, sie sind wie gelähmt und ihr fällt es schwer, positive Gefühle (wie z.B. Freude) zu empfinden. Entsprechend wird ihre Sprache sachlich und nüchtern, in den Worten knapp und auf das sachlich Notwendigste beschränkt; Sepia ist ungesellig und wirkt eher abwehrend. Stattdessen kehren Reizbarkeit und unterschwelliger Zorn ein.
Dies führt zum Negativbild der gewissenhaften und zuweilen „zickigen” Hausfrau: sie ist überkritisch und ärgert sich über jede Kleinigkeit.
Die Ursache liegt in der mangelnden Anerkennung ihrer Rolle als Hausfrau und ihres großen Engagements. Obwohl sie sich nahezu aufopfert und vieles von dem, was ihr eigentlich wichtig ist, aufgibt, fühlt sie sich in ihrem Selbstwert und Selbstbewusstsein zutiefst beeinträchtigt, weil die anderen oft ihre Pflichterfüllung für selbstverständlich halten bzw. sie abwerten.
Sepias innere Stress-Situation entsteht auf der Erscheinungs-Ebene durch ihr Bestreben, es anderen Menschen in jeder Hinsicht recht zu machen. Durch einen inneren Konflikt mit dem anderen Geschlecht, genauer: ihrem Animus, versucht Sepia (Thema: Anerkennung ihrer Stärken, Gleichberechtigung), ihre weichen, weiblichen Seiten zu unterdrücken und in der Rigidität ihrer Pflichterfüllung sich mit männlichen Eigenschaften zu messen. Ihre unterdrückten weiblichen Gefühle äußern sich entweder in übermäßiger Sachlichkeit sowie psychischen und körperlichen Erschöpfungszuständen oder aber ventilieren in Reizbarkeit und Aggressivität: „Auf der körperlichen Ebene manifestiert sich dieser Kampf … als Fehlfunktion der weiblichen Geschlechtsorgane”. Die Abwehr gegenüber dem anderen Geschlecht, dessen Animus-Eigenschaften sie gerade zu entwickeln versucht, äußert sich körperlich und seelisch in der Verweigerung („Abneigung gegen Sexualität”) der Sexualität. Diese könnte ihr aber zu ihrer Verbindung mit ihrer eigenen Männlichkeit verhelfen.
Insofern wird Sepia auch als das „weibliche Nux vomica” angesehen. Während aber Nux vomica seinen Stress durch Reizmittel kompensiert und sich in ständiger Stressbereitschaft hält, verfällt Sepia in Apathie, Depression und emotionale Gleichgültigkeit. Ihre ständige Müdigkeit führt eher zu Abgestumpftheit.
Bis Mitte der 60er Jahre war die oben beschriebene Hausfrauen-Rolle typisch für weibliche Sozialisation und Lebensweise sowie das Geschlechter-Rollen-Verhältnis. In der Kompensation ist Sepia die emanzipierte Frau in der Berufswelt, die sich von der Last der Liebe befreien will: sie wirkt tendenziell hart, unsentimental und wenig emotional.
Typische körperliche Beschwerden sind:
Rückenschmerzen: sie stehen für mangelndes Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Weiter drücken sie die fehlende Unterstützung aus, die Sepia subjektiv erfährt. Kopfschmerzen und Migräne verdeutlichen die ständige leistungsmäßige Überforderung, der sich Sepia ausgesetzt fühlt.
Der Mangel an Entspannung und Leben der eigenen Individualität somatisiert in den Kopf, der starken verstandesmäßigen Kontrolle der eigenen Pflichten wegen. -Verstopfung: Hier geht es um das Thema, dass Sepia seine Gefühle innerlich staut und nur schwer zeigen und loslassen kann.
Körperlich wird Sepia vor allem angewandt bei psychischen und somatischen Störungen während der Wechseljahre (z.B. Depressionen, nervöse Erschöpfungszustände, Regelstörungen, Migräne), aber auch bei diversen frauenspezifischen Erkrankungen (chronische Entzündung der Eileiter und der Eierstöcke, Entzündungen der Beckenbindegewebes, Senkungsbeschwerden der Beckenorgane etc.). Klimakterische Beschwerden während der Wechseljahre zeigen symptomatisch „die offen gebliebenen Themen … ungelebte Weiblichkeit, Versäumnisängste, Panikstimmung, Nachholbedarf”.
Typische Ängste von Sepia:
- Angst vor Abhängigkeit
- Angst bei fixen Blicken
- Angst beim Nähen
- Angst vor Verletzung durch Männer
- Angst zu verhungern
- Angst vor Ratten
- Angst, bald zu sterben
Sepias Ängste haben vor allem mit der verlorenen Freiheit durch ihre (z.T. selbst-) auferlegte geschlechtsspezifische Rolle und ihrem unbewältigten Problem mit dem anderen Geschlecht zu tun.
Die Angst vor dem Sterben drückt eine Angst vor innerer Veränderung und Wandlung aus, denn für Sepia soll „das Leben… in eine Vorstellung gepresst werden, anstelle die tatsächlichen Möglichkeiten des Lebens zu nutzen”.
Typische Träume von Sepia:
- Pferd
- Kampf mit Ratten
- Unwichtiges
- Urinieren
- Belästigung
- Domina-Sex
- Verfolgung, muss nach rückwärts weichen
- Drohungen der Vergewaltigung
Das Pferd stellte früher die Attribute Kraft, Schnelligkeit und männliche Vitalität dar. Der Kampf mit den Ratte ist die ständige innere Auseinandersetzung mit Selbstzweifeln, die an der Entfaltung von Selbstbewusstsein und Ich-Stärke hindern. Urinieren hat mit sexuellen Spannungen zu tun. Im Domina-Sex kommt die unterdrückte Sexualität und der Wunsch nach eigener Macht und Kontrolle in geschlechtsspezifischen Beziehungen zum Ausdruck. Vergewaltigungen können einerseits als Angst vor sexueller Macht (polare Kehrseite des vorherigen Traum-Motivs) durch das andere Geschlecht interpretiert werden. Andererseits weisen sie auch auf innere-Trieb-Veränderungen hin. Die Verfolgung bedeutet das Aufbrechen unbewusster Gefühlsinhalte, die nur schwer zugelassen werden können.
Tageszeitlich bezieht sich Sepia vor allem auf die Zeiten des späteren Vormittags (10 – 11Uhr) und des fortgeschrittenen Nachmittags (16 – 18Uhr). Vollmond verschlimmert: Er steht symbolisch für die Klarheit in der Bewusst-Werdung des bisher Erlebten. Die für Sepia typische Jahreszeit der Verschlimmerung ist das Frühjahr: hier brechen unbewusste Kräfte mit Macht auf, die in neue Erfahrungen drängen. Die beiden Konstitions-Mittel Sulfur und Sepia haben somit allesamt mit Themen des inneren Animus und der inneren Anima zu tun.
Sulfur und Sepia als homöopathische Heilmittel können helfen, die Dysbalance zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit in der eigenen Persönlichkeits-Struktur zu bearbeiten und zu einem ausgewogeneren Verhältnis der verschiedenen Seiten der Persönlichkeit zu kommen.
In der nächsten Ausgabe des PARACELSUS-REPORT werde ich mich mit psychischen Persönlichkeitsbildern der Homöopathie beschäftigen, die die gewachsene Sensibilität für tiefe emotionale Bedürfnisse symbolisieren: Phosphor und Pulsatilla. Sie beziehen sich nicht nur auf die weiche, gefühlsmäßig empfängliche Seite des Menschen, sondern drücken auch die Themen persönliche Abgrenzung, Abhängigkeit und Angst vor dem Allein-Sein aus. Dies sind Themen, die gerade in den vergangenen 10 – 15 Jahren zunehmend in den Vordergrund der Problem-Stellungen des heutigen Menschen gerückt sind.
Dr. phil. Reinhard Müller
Heilpraktiker